Mittwoch, 2. Oktober 2013

Countdown

Seit Tagen verfolgt mich dieses Augenlied-Stress-Zucken. Kennt ihr das? Ich muss mir mich dann immer mit einer Jägermütze, diese mit den Ohrenklappen, einer alten Schrotflinte ( die ich Liebling nenne) und einem Sabbertropfen vorstellen. Dieses Bild von mir verdanke ich übrigens meinem früheren Klassenlehrer, Herrn Busch, welches entstand, als die Diskussion mal wieder auf die fußballspielenden Fünftklässler zwischen den Klassenpavillionen kam. Nun, genau dieses Stresszucken ist es, dass mir seit Tagen keine Ruhe lässt, begleitet von unerbittlicher Müdigkeit, kleinen Krankheitsanzeichen und, am störendsten, einer penetranten Schusseligkeit und Tolpatschigkeit, der ich nur ausgeliefert bin, wenn mir mein Leben mal wieder über den Kopf wächst. Es passiert mir und ich stehe davor, mit großen Augen und staune, wie es rennt. Ich habe vergessen, dass ich hinterherrennen muss... vielleicht bewegt es sich wie auf einem Sportplatz und irgendwann kommt es von hinten angeschossen und nimmt mich mit.

Es sind noch 4 Tage.

Inzwischen sind, abgesehen vom Packen meines Koffers, den ich in den Keller verbannt habe, damit er nicht so strafend guckt, alle wichtigen Dinge getan. Mit meiner neuen Diabetestherapie, die ich vor einer Woche aus verschiedenen Gründen umstellen musste, komme ich nun gut zurecht, auch wenn die Werte noch recht holperig sind. Ich schreibe das dem Gefühlschaos in mir zu. Oh, obendrauf kommt noch, dass ich in den letzten Monaten ausversehen zu meinem Freund gezogen bin. Wie das geht? Naja, erst war ich so zwei Tage die Woche bei ihm, dann drei, dann fing ich an bei ihm zu arbeiten und jetzt bin ich immer nur noch kurz zu Hause um meine Katze zu knutschen, etwas vorzubereiten, etwas zu holen oder wegzubringen oder mit meinen Eltern zu sprechen. Ich habe oft Schuldgefühle deswegen. Ich weiß, dass meine Eltern sich wegen Afrika große Sorgen machen und es würde ihnen sicher leichter fallen, wenn sie mich gerade mehr um sich hätten, allerdings gewöhnen sie sich so vielleicht daran, mich nicht um sich zu haben. Die Schuldgefühle hege ich daher insbesondere gegenüber Flöckchen, meiner Katze, und meinem schändlich vernachlässigten Zimmer, dessen Optik in den letzten Wochen von meiner Höhle zu einem Umschlagsbahnhof mutiert ist. Dafür freut sich der andere Teil meiner Familie ganz besonders über meine häufige Anwesenheit. Und so sitze ich jetzt mit dieser meiner kleinen Familie, bestehend aus Jean (meinem Freund) und unseren Katern, Pi und Sigma, auf dem Sofa unseres gemeinsam renovierten Wohnzimmers und höre "Wild Life" von Fiddlers Green.

 Das es auch nur einen Teil in mir gibt, der realisiert hat, dass ich mich in fünf Tagen auf dem weg in eine andere Welt befinde, bezweifle ich stark. Ich habe noch nie annähernd Vergleichbares erlebt, alles daran ist neu. Ich werde so viel lernen müssen und mit Sicherheit so viele Fehler machen! Und ich muss sagen, ich freue mich riesig darauf, hinauszugehen und alle diese Fehler zu begehen. Vielleicht wird mir bei meiner Rückkehr ja etwas angerechnet, das man Lebenserfahrung nennt. Ob das reicht? Oder sind drei Monate in Südafrika nicht genug, um von Lebenserfahrung zu sprechen? Was muss man dafür tun? Wie alt muss man dafür werden? Ab wann wird man als erwachsener respektiert. Ich kann mir gerade nicht verkneifen meine Meinung dazu kundzutun: Ich glaube, erwachsen sein kann jedes Kind. Ich bin es, seit ich sechs bin. Vielen Erwachsenen ist das sehr unangenehm, nach meiner Beobachtung besonders denen, die besonders viel auf ihr Erwachsensein und ihre Lebenserfahrung im Bezug auf ihr Alter setzen. Die Probleme der Erwachsenenwelt sind groß, komplex, die sorgen existenziell und für ein Kind unvorstellbar. Wie erschütternd, wenn ein so junges Kind dann anfängt, die Situation tatsächlich zu verstehen und sich erdreistet, auch noch wirklich hilfreiche Dinge zu sagen. Es darf einfach nicht möglich sein, dass die großen Probleme der großen Menschen schon im Kleinsten ihr Ebenbild finden und doch ist es so. Was unterscheidet den Schüler, der vor der Versetzung zittert von dem Arbeitnehmer, der sich vor einer Kündigung ängstigt. Häufig lautet die Antwort des Arbeitnehmers: "Gar kein Vergleich! Bei mir geht es um Existenzängste, der Knirps hat alles noch vor sich! Hingegen der Arbeitsmarkt zur Zeit und trotz meiner Profession..." Ob er in diesen Momenten wohl daran denkt, dass er bereits eine Profession und eine Anstellung hat, der "Knirps" aber noch vollständig um diese Bangen muss? All die Gefühle, die sich hinter den "großen Problemen" verbergen, kennt jedes Kind. Und jedes halbwegs kluge Kind, ist in der Lage, mit etwas Empathie, diese gegeneinander abzugleichen und sich so problemlos in den Erwachsenen hineinzuversetzen. Das mag erschreckend sein, aber es ist so, ich spreche aus Erfahrung. Und so ist ein Teenager in der Lage, mehr Lebenserfahrung zu besitzen, als manch "Großer" am Ende seines Lebens. Erst recht in einer Zeit, die sich so schnell entwickelt, dass "Alter" nicht mehr die Überlegenheit im täglichen Leben durch Übung und Erfahrung bedeutet, denn das wäre der Punkt, in dem Alter und Lebenserfahrung tatsächlich zusammenhängen, sondern hauptsächlich und traurigerweise, den Verlust von einstig vielleicht sogar perfektionierten Fertigkeiten. Aus diesem Grund bin ich am "Erwachsenwerden" eher mäßig interessiert. Was ich mir erobern möchte, ist meine Kinderseele, die man vielleicht schon im ersten Eintrag herausgehört hat. Sie ist das, wofür es sich zu kämpfen lohnt, was man so leicht verliert und welches nur so schwer wiederzuerlangen ist. Sie ist der Grund, dass ich mit sprühendem Herzen und voller Freude nach Afrika fahren kann und nicht in Angst vor meinen Fehlern zergehe, sie ist der Grund, dass der Inhalt meines Ereaders hauptsächlich aus Büchern meiner Kindheit besteht, in denen ich mich zu hause fühle, sie ist der Grund, dass ich eine Stunde damit verbringe Bilder einzuscannen, die unbedingt mitmüssen, weil sie mich zum träumen und zum erblühen meiner Phantasie anregen. Und so möchte ich versuchen, den Kontakt zu ihr zu verstärken und weiß, dass es für mich nur diesen Weg gibt, mich zu finden und "ich selbst" zu sein. Denn nur mit ihr fühle ich, kann wütend sein und mich gleichzeitig über diese Wut freuen, kann neues entdecken und altes im Herzen behalten. Sie hat mich nach Afrika gebracht und verwirklicht, mit dem, was ich in den nächsten Monaten tun werde eine lang gegehgten Kindheitstraum, den ich schon im letzten Eintrag beschrieb.
Mit dieser Energie fahre ich nach Afrika.

In Liebe
Rania

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